Einleitung
Subkutane Applikationsformen von hochaktiven Medikamenten zur Behandlung der multiplen Sklerose (MS) sind neue wichtige Bausteine einer modernen MS-Therapie. Sie ermöglichen eine niederschwellige und frühe Anwendung hocheffektiver Substanzen. Der frühe Einsatz hocheffektiver Substanzen hat zudem einen guten Effekt auf die Reduktion des Risikos von Progression [
9,
13]. Der monoklonale Antikörper Natalizumab und B‑Zell-gerichtete Anti-CD20-Therapien waren bis 2021 nur in intravenöser Applikationsform verfügbar. Für Patienten war diese Form der Anwendung potenziell belastend, zeitaufwendig und mit hohem gesundheitsökonomischem Aufwand verbunden. Durch die subkutane Applikationsform sowohl von Natalizumab als auch der B‑Zell-gerichteten Therapie mit Ofatumumab können hocheffektive MS-Therapeutika weniger invasiv und teils durch die Patienten selbst appliziert werden.
Progression stellt die größte Herausforderung moderner MS-Therapien dar [
7]. Eine zunehmende Behinderung kann auch aus einer schubunabhängigen Progression (PIRA) resultieren [
14]. Der frühe Beginn einer hocheffektiven Therapie ist aktuell die einzige Möglichkeit, nachweislich Progression und somit Behinderung zu verhindern [
3,
9,
13,
14].
Zu den Medikamenten der höchsten Wirksamkeitskategorie zählen neben Natalizumab und Alemtuzumab insbesondere auch die B‑Zell-adressierenden Therapien.
Mit Ocrelizumab wurde im Jahr 2019 erstmals ein B‑Zell-gerichteter humanisierter Antikörper für die MS-Therapie zugelassen. Mit Ofatumumab (Kesimpta™) steht seit September 2021 eine weitere B‑Zell-gerichtete Therapie für die schubförmige MS (RMS) in Deutschland zur Verfügung. Hierbei handelt es sich um einen voll humanen Anti-CD20-Antikörper. Die subkutane Selbstapplikation ermöglicht dem Patienten hierbei eine hohe Autonomie. In den Phase-III-Studien ASCLEPIOS I und II [
8] zeigte sich eine signifikante Reduktion der Schubrate und der Behinderungsprogression im Vergleich zu Teriflunomid.
Die Zulassung von Ofatumumab erfolgte als „Arzneimittel unter zusätzlicher Überwachung – Schwarzes Dreieck“. Das heißt, Patientenakzeptanz, Real-world-Verträglichkeit sowie etwaige Nebenwirkungen unter Langzeitapplikation bedürfen noch weiterer Untersuchungen.
Die Ergebnisse unserer systematischen Erfassung demonstrieren aus patientenzentrierter Sicht die Verträglichkeit und Akzeptanz von Ofatumumab und sind wichtige zusätzliche Ergänzungen der Zulassungsstudien.
Methodik
Unsere Beobachtungsstudie hatte das Ziel, die Verträglichkeit und Akzeptanz von Ofatumumab aus patientenzentrierter Sicht zu untersuchen.
Die Kohorte umfasst alle Patienten an der Universitätsklinik für Neurologie, Standort St. Josef Hospital Bochum, und Patienten einer sehr großen MS-Facharztpraxis im Ruhrgebiet (Dr. med. Nastos), die zwischen September 2021 und November 2022 auf eine MS-Therapie mit Ofatumumab eingestellt wurden, teilnehmen wollten und mindestens drei Monate mit Ofatumumab behandelt wurden. Die Einstellung auf Ofatumumab erfolgte gemäß der Fachinformation mit einer initialen Eindosierungsphase. Die Therapieentscheidung erfolgte durch den behandelnden Arzt bzw. die behandelnde Ärztin und wurde unabhängig von der Studie getroffen.
Die systematische Erfassung der Daten umfasste folgende Punkte:
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Soziodemografische Daten
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Krankheitsspezifische Daten
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Daten zur Therapie mit Ofatumumab
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Selbstauskunftsbögen (BDI, MSIS-29, SF-36, FSMC)
Darüber hinaus wurde der Multiple-Sclerosis-functional-composite-Test (MSFC) durchgeführt und die aktuelle Expanded Disability Status Scale (EDSS) ermittelt. Fehlende oder inkomplette Datensätze wurden mittels Telefoninterviews auf Basis der Fragebögen ergänzt. Gleichzeitig erfolgte eine systematische Analyse der klinikinternen Arztdokumentationen.
Bezüglich der Medikation mit Ofatumumab wurden insbesondere frühe Nebenwirkungen (innerhalb von 48 h post injectionem [p.i.]) sowie späte Nebenwirkungen (während einer Woche p.i.) nach Erstanwendung und in den Folgeanwendungen evaluiert. Weiter wurden die subjektive Handhabung sowie der Einfluss auf die Lebensqualität, Gehstrecke, Konzentration, Stimmung, Müdigkeit und den subjektiven MS-Krankheitsverlauf erfasst. Außerdem wurde die Therapieadhärenz untersucht. Für den Fall des Therapieabbruchs wurden die Gründe erfragt.
Die Auswertung der Daten erfolgte mittels Microsoft Excel Version 2211 Build 16.0.15831.20098.
Diskussion
Unsere Studie zeigt eine hohe Verträglichkeit und Akzeptanz von Ofatumumab in der subkutanen Anwendung. Damit können wir erstmalig mit
Real-world-Patientendaten die zuvor berichtete hohe Verträglichkeit von Ofatumumab aus den randomisierten Zulassungsstudien bestätigen [
1,
8,
18].
Ofatumumab zeigt mit der ersten Injektion eine hohe Nebenwirkungsrate. Die Nebenwirkungen sind jedoch mit einer milden Symptomatik verbunden und treten im Verlauf der Behandlung bei weniger als 20 % der Patienten auf. Die häufigsten Symptome sind Schüttelfrost und Fieber infolge der schnellen B‑Zell-Elimination [
6]. Durch rasche Zytokinfreisetzung können die meisten Symptome erklärt werden. Die Milde dieser Nebenwirkung wird durch eine geringe Abbruchquote objektiviert – wir empfahlen ggf. die Einnahme von nichtsteroidalen Antiphlogistika, Flüssigkeitszufuhr und Ruhe. Gleichzeitig berichtet unsere Kohorte von einer nahezu nebenwirkungsfreien Folgeanwendung des Medikaments. Compliance und Akzeptanz sind sehr hoch, was möglicherweise an der einfachen Anwendung des Medikaments liegt (Abb.
4a). Eine erhöhte Infektneigung kann nicht beobachtet werden. Ebenso kam es im Beobachtungszeitraum nur bei einer Patientin zu einem Schubereignis. Diese Patientin erhielt zu diesem Zeitpunkt erst vier Wochen Ofatumumab. Die Therapieeinstellung erfolgte aufgrund eines sensiblen Schubereignisses. Nach vier Wochen erlitt die Patientin ein erneutes Schubereignis mit neu aufgetretenen supratentoriellen sowie spinalen Läsionen. Zuvor war die Patientin drei Monate ohne Basistherapie. Damit ist das Schubereignis aufgrund noch fehlender Therapiewirkung von Ofatumumab zu werten. Die volle immunologische Wirkung von Ofatumumab ist erst nach sechs bis acht Wochen zu erwarten.
Mit durchschnittlich ca. 3 Vortherapien und einem EDSS-Wert von 2,3 Punkten ist unsere Kohorte vordergründig mäßig krankheitsbelastet. Die Ergebnisse unserer „patient-reported outcomes“ zeigen, dass die Kohorte trotz der relativ geringen Behinderung stark in verschiedenen Domänen beeinträchtigt ist. Wir können mittels SF-36 objektiv eine verminderte Lebensqualität insbesondere in der Domäne der Gesundheitswahrnehmung nachweisen. Dennoch berichtet ein Teil der Patienten subjektiv von einer Verbesserung der Lebensqualität unter Ofatumumab. Ob dieser subjektive Eindruck langfristig anhält, werden wir zukünftig mittels longitudinaler Daten der noch laufenden Beobachtung beurteilen.
Der langfristige Effekt der Therapie mit Ofatumumab, insbesondere auf Fatigue, Konzentration und Gehstrecke, ist zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht beurteilbar. Jedoch berichtet ungefähr die Hälfte der Patienten auch in dieser frühen Phase erste subjektive Einschätzungen:
Hinsichtlich der Gehstrecke berichten die wenigsten Patienten von einer Verschlechterung unter Ofatumumab, während etwa 20 % einen positiven Effekt bemerken. Wie bei dem kurzen Beobachtungs- und Therapiezeitraum zu erwarten ist, berichten die meisten Patienten von keinem Einfluss auf die Gehstrecke. Da der durchschnittliche EDSS-Wert bei 2,3 liegt, ist unsere Kohorte insgesamt gering gehbeeinträchtigt. Trotzdem zeigt der physische Teil der MSIS-29 eine deutliche motorische Krankheitslast (Abb.
5). Dies kann möglicherweise durch die hohe motorische Fatigue erklärt werden; ein Befund, der bei früh erkrankten MS-Patienten bekannt ist [
15]. Eine positive Bewertung der Gehstrecke kann infolgedessen auch ein Hinweis auf eine Verbesserung der Fatigue durch Ofatumumab sein, welche von gut 15 % unserer Patienten berichtet wird.
Subjektiv berichten die wenigsten Patienten, dass Ofatumumab negativ auf ihre Konzentration wirkt. Knapp 20 % schildern sogar eine Verbesserung ihrer Konzentrationsfähigkeit. Gleichzeitig zeigt die FSMC jedoch, dass etwa die Hälfte der Kohorte unter einer schweren kognitiven Fatigue leidet. Dies spiegelt sich auch in der Befragung hinsichtlich des Einflusses von Ofatumumab auf die Müdigkeit wider. Etwa ein Viertel der Patienten berichtet von „viel mehr“ bzw. „mehr“ Müdigkeit im Alltag. Inwiefern diese Angaben objektivierbar sind und ob Ofatumumab wirklich die kognitive Fatigue fördert, werden wir in weiteren longitudinalen Studien untersuchen.
Im Vergleich zwischen BDI und der berichteten Stimmungsänderung unter Ofatumumab zeichnet sich ein positiver Effekt ab. Etwa ein Viertel der Patienten berichtet von einer Stimmungsbesserung trotz hoher Depressionsrate im BDI. Insgesamt zeigt MSIS-29 im psychologischen Teil eine höhere psychische als körperliche Beeinträchtigung. Dies lässt sich vor allem durch die hohe kognitive Fatigue und die hohe Depressionsrate erklären [
11,
12].
Der subjektive Therapieerfolg auf die Stimmung und Müdigkeit wird derzeit von den Patienten noch neutral beschrieben. Der Großteil kann keine exakte Einordnung zu diesen Themen treffen. Positive oder negative Effekte von Ofatumumab auf Fatigue und Depression könnten durch weitere Beobachtungszeitpunkte objektiviert werden. Dies gilt auch für den Einfluss des Medikaments auf den gesamten Krankheitsverlauf. Auch hier berichtet die Hälfte der Patienten, keine Antwort zu wissen. Positive Tendenzen zeichnen sich jedoch ab, da derzeit mehr als ein Drittel der Patienten eine subjektive positive Wirkung verspürt.
Die meisten Patienten unserer Kohorte empfinden positive Effekte durch Ofatumumab. Die positive Wahrnehmung kann auch allein durch die Applikationsform und durch das Wissen, dass eine hochaktive Substanz erhalten wird, begründet sein. Jedoch erhielt etwa ein Viertel der Patienten bereits eine hochaktive Vortherapie (Abb.
2). Für die wenigsten Patienten ist Ofatumumab die Ersttherapie und die meisten hatten schon vor Therapieumstellung einen stabilen MS-Verlauf. Aus diesen Gründen gehen wir davon aus, dass die positive Wahrnehmung von Ofatumumab keine primär immunologische Ursache hat. Die positive Wahrnehmung kann durch die einfache Handhabung und das Gefühl der Selbstbestimmung bzw. Selbstwirksamkeit der Patienten beeinflusst sein.
Das ideale MS-Medikament ist immunologisch effektiv, verhindert Progression, ist gut verträglich und hat keine gefährlichen Nebenwirkungen.
Vor 20 Jahren standen mit den
„injectables“, Interferon-β-Analoga und Glatirameracetat erstmals spezifische MS-Medikamente zur Verfügung, welche bis heute als MS-Immuntherapeutika der geringsten Wirksamkeit eingesetzt werden. Mit ihrer schwachen immunologischen Wirkung im Vergleich zu hocheffektiven MS-Therapien und relativ schlechter Verträglichkeit ist ihr breiter Einsatz jedoch zunehmend umstritten [
10,
19].
Hocheffektive Therapien sind mittlerweile gut verträglich und zeigen eine hohe immunologische Wirksamkeit. Ihr früher Einsatz verhindert nachweißlich Behinderungsprogression [
2,
9,
18]. Der nationale Vergleich der beiden Therapiestrategien – früher Beginn hochaktiver Therapie (Schweden) gegen Eskalationsstrategie (Dänemark) – zeigt, dass der Beginn mit einer höher wirksamen Therapie eine Progression besser verzögert als der Beginn mit einer weniger effektiven Therapie [
18]. Die Erstbehandlung mit hocheffektiven Therapien geht mit einem geringeren Risiko der Umwandlung in eine sekundär progrediente MS [
2] und einer geringeren Behinderung in einem Zeitintervall von sechs Jahren einher [
9]. Ihr potenziell höheres Nebenwirkungspotenzial ist durch inzwischen langjährige Erfahrung und gut etablierte Sicherheitsuntersuchungen kontrollierbar. Auch schwere Nebenwirkungen wie die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) bei Natalizumab sind immer besser beherrschbar geworden [
4,
17].
Damit ist in der praktischen Anwendung hochaktiver Therapien vor allem der hohe logistische Aufwand der Applikation ein Nachteil. Bis vor zwei Jahren waren sowohl Natalizumab als auch die B‑Zell-depletierende Therapie nur als intravenöse Applikation verfügbar.
Die subkutanen Applikationsformen verbessern ihre Anwendung aus patientenzentrierter Sicht und erleichtern damit ihre frühe Anwendung [
16].
Diese patientenzentrierte Verbesserung kann unsere Studie darstellen. Ofatumumab genießt bei unseren Patienten eine hohe Verträglichkeit und Akzeptanz. Im Vergleich zu anderen Immuntherapien ermöglicht die häusliche Selbstanwendung des Medikaments darüber hinaus ein großes Maß an Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von stationären Klinikaufenthalten und langen Aufenthalten in Infusionsambulanzen. Insbesondere in Zeiten immer knapperer Ressourcen im Gesundheitssystem, mangelnder Pflege- und Bettenkapazität sowie pandemiebedingter Einschränkungen in Gesundheitseinrichtungen kann mit Ofatumumab eine frühe und adäquate Langzeitimmuntherapie gewährleistet werden. Die langfristigen Therapieeffekte sind mit dieser Studie zwar durch den noch kurzen Stichprobenzeitraum von einem Jahr nicht vorhersehbar, es zeichnen sich jedoch jetzt schon positive Effekte ab.
Limitationen
Limitationen unserer Studie sind der noch kurze Stichprobenzeitraum von einem Jahr. Die subjektiven Fragebögen wurden nicht validiert und die Quote an strukturiert erfassten Patienten ist weiter steigerungsfähig. Darüber hinaus können die „patient-reported outcomes“ nach einer durchschnittlichen Therapiedauer von ca. 3 Monaten nicht mehr als Ausgangswert vor Therapie genutzt werden. Ein Zentrumseffekt ist in dieser Kohorte wahrscheinlich.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Die Studie wurde in Übereinstimmung mit der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt und von der lokalen Ethikkommission der Ruhr-Universität Bochum genehmigt (20-6827). Von allen beteiligten Patient/-innen liegt eine Einverständniserklärung vor. Die erhobenen Daten dieser Studie sind per E‑Mail anfragbar unter rafael.klimas@rub.de.
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