Aktive Überwachung
Etwa 70–80 % der Seminome werden im klinischen Stadium I (CSI) entdeckt, d. h. dass zum Zeitpunkt der Orchiektomie in den konventionellen Staginguntersuchungen keine Metastasierung nachweisbar ist (pT1–4, cN0, cM0) und eventuell präoperativ erhöhte Tumormarker postoperativ wieder in den Referenzbereich abfallen.
Betrachtet man nun die Gesamtheit der Seminompatienten im Stadium CSI, so werden bis zu 30 % der Patienten nach alleiniger Ablatio testis ein Rezidiv erleiden. Dies liegt daran, dass zum Zeitpunkt der Orchiektomie bei einem Teil der Patienten bereits eine nichtdetektierbare retroperitoneale Mikrometastasierung vorliegt. Eine individuelle Vorhersage, welche Patienten ein Rezidiv erleiden werden und welche nicht, kann nicht getroffen werden. Allerdings wurden in mehreren Studien prognostische Faktoren untersucht, die die Wahrscheinlichkeit für ein Rezidiv erhöhen. In einer Übersichtsarbeit von 2017 haben Zengerling et al. 19 Studien zusammengefasst, in denen insgesamt 26 verschiedene Risikofaktoren für das Auftreten eines Rezidivs eines CSI untersucht wurden [
34]. Von allen untersuchten Merkmalen haben sich die Tumorgröße (kontinuierlich bzw. dichotomisiert ab einer Größe >4 cm, in 10/14 Studien, Hazard Ratio, HR:1,33) und – mit geringerer Evidenz – die Infiltration des Rete testis (in 4/13 Studien, HR: 1,18) als Risikofaktoren für das Auftreten eines Rezidivs herausgestellt.
Bei Vorliegen eines Seminoms im Stadium I soll laut Leitlinie eine aktive Überwachung erfolgen
Bei Vorliegen eines Tumors von >4 cm und einer Infiltration des Rete testis liegt das Rezidivrisiko bei etwa 30 %, wohingegen bei Fehlen beider Risikofaktoren das Rezidivrisiko mit lediglich 4–6 % anzunehmen ist. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass selbst bei Vorliegen von beiden Risikofaktoren eine adjuvante Therapie in gut 70 % der Fälle eine Übertherapie darstellt. Daher besteht die Empfehlung der EAU-Guideline (European Association of Urology) und der deutschen S3-Leitlinie zur Behandlung von Keimzelltumoren darin, dass bei Vorliegen eines Seminoms im Stadium I eine aktive Überwachung erfolgen soll, sofern diese Therapieform bei dem Patienten durchführbar ist.
Adjuvante Chemotherapie und Radiotherapie
Eine adjuvante Therapie bei Patienten mit einem Seminom im Stadium I ist zweifelsohne wirksam und kann das Rezidivrisiko deutlich senken. Im Hinblick auf das Gesamtüberleben bringt die adjuvante Therapie allerdings keinen Vorteil.
Ein möglicher Grund für die Wahl einer adjuvanten Therapie gegenüber der aktiven Überwachung („active surveillance“, AS) wären z. B. Complianceprobleme. Eine weitere Konstellation stellen Patienten mit einem erhöhten Rezidivrisiko anhand der bekannten Faktoren dar, die gleichzeitig Komorbiditäten aufweisen, aufgrund welcher eine Rezidivbehandlung schwierig erscheint.
Eine adjuvante Chemotherapie mit Carboplatin ist die am häufigsten angewendete Methode. Die Nichtunterlegenheit dieser Behandlung gegenüber einer adjuvanten Radiotherapie wurde im Rahmen einer Phase-III-Studie (ISRCTN27163214) an 1477 unselektierten Patienten gezeigt, die entweder mit einer Einmalgabe von Carboplatin („area under the curve“, AUC: 7) oder einer adjuvanten Radiotherapie behandelt wurden. Das rückfallfreie 5‑Jahres-Überleben betrug 94,7 % für Carboplatin bzw. 96,0 % für die Radiotherapie bei insgesamt vorteilhafterer Verträglichkeit der Chemotherapie [
24]. Als Limitation der Studie sind anzusehen, dass a) der Non-Inferiority-Bereich nachträglich von 3 auf 5 % erhöht wurde (dadurch Nichtunterlegenheit erreicht) [
32], b) es unklar bleibt, wie viele der in die Studie eingeschlossenen Patienten Risikofaktoren für ein Rezidiv aufwiesen, und c) letztendlich der Vergleichsarm der aktiven Überwachung fehlt.
Die schwedische und norwegische Studiengruppe (SWENOTECA) untersuchte die Risikoreduktion durch einen Zyklus Carboplatin AUC7 anhand von Risikofaktoren gegenüber der aktiven Überwachung [
28]. Eine adjuvante Chemotherapie mit Carboplatin führte bei Patienten ohne Risikofaktoren zu einer Halbierung des Rezidivrisikos gegenüber aktiver Überwachung bei jedoch insgesamt sehr niedrigen Rezidivraten (2,2 % mit Carboplatin vs. 4 % bei aktiver Überwachung), was letztlich die Empfehlung einer aktiven Überwachung begründet. Da das Rezidivrisiko mit adjuvanter Gabe von Carboplatin bei Patienten mit Risikofaktoren nur von 15,5 auf 9,3 % gesenkt wurde, stellt sich die Frage, ob ein Zyklus Carboplatin AUC7 bei diesen Patienten die optimale Therapie darstellt.
Basierend auf diesen Erfahrungen haben einige Autoren die Gabe von 2 Zyklen Carboplatin AUC7 untersucht – mit durchaus guten Resultaten [
3,
8].
Die Radiotherapie der Paraaortalregion mit 20 Gy (10 Fraktionen) stellt eine etablierte adjuvante Behandlung dar. Lange Jahre war die Radiotherapie im Stadium I Standard mit Heilungsraten von 98–100 % [
4]. Der Standard verschob sich wegen zunehmender Berichte über mögliche Spätfolgen (Serien teilweise aus den 1940er- bzw. 1960er-Jahren mit inadäquaten Dosen von 30–46 Gy und entsprechenden Techniken) [
30] zu Carboplatin. Bei genauer Analyse der Spätfolgedaten für die Radiotherapie zeigt sich jedoch anhand neuer Analysen kein erhöhtes Krebsinduktionsrisiko bei einer Radiotherapie nur des paraaortalen Volumens [
18], selbst bei viel höheren Dosen (bis 46 Gy), im Langzeitverlauf [
16]. Bei Absenkung der Dosis auf 24–26 Gy war die Zweitkarzinomrate auch bei größeren Volumina („Hockeystick“) nicht erhöht [
16]. Verglichen mit einem Zyklus Carboplatin AUC7 scheint die Radiotherapie auch bei Risikofaktoren (Rete-testis-Infiltration, Tumordurchmesser >4/6 cm) bis 90 % der Rezidive zu verhindern [
22], Äquieffektivität wurde erst mit der Applikation von 2 Zyklen Carboplatin erreicht [
2,
3].