Das Wissen um die kulturelle Verortung eines Menschen stellt für die therapeutische Praxis eine zentrale Orientierung dar. Es gibt Aufschluss über Bezugssysteme, Werte, Normen und Weltbilder von Klient:innen und steht auch im Zentrum der Selbstreflexion von Psychotherapeut:innen. Aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive wird Kultur als „ein komplexes Konstrukt begriffen“ (von Lersner und Kızılhan
2017, S. 2), in dem soziale Wirklichkeit diskursiv ausgehandelt wird.
2 Kultur kann demzufolge als „Wertung im Sinne eines organisierten Systems von Bedeutung“ (von Schlippe et al.
2022, S. 28) verstanden werden, innerhalb dessen Menschen sozialisiert werden und bestimmte Werte, Normen sowie „Muster des Denkens, Fühlens und potenziellen Handelns“ (ebd., S. 29) adaptieren. Kultur stellt an sich kein stabiles und festes Fundament dar, sondern ist einem stetigen Wandel unterworfen innerhalb dessen kulturelle Identitäten ausgehandelt werden. An dieser Stelle sollen Elemente der postkolonialen Theorie des Kulturwissenschaftlers Homi K. Bhabha
3 eingeführt werden, dessen Ansatz zu einem Perspektivenwechsel in der Kulturwissenschaft geführt hat.
4 Bhabhas Kulturverständnis, insbesondere der vom ihm geprägte Begriff des „dritten Raumes“, stellen eine Möglichkeit dar, um transkulturelle Begegnungen in der psychotherapeutischen Praxis theoretisch zu verorten. In seiner umfangreichen Publikation „The Location of Culture“ (
1994) befasst sich Bhabha mit Fragen von Identitätskonstruktionen innerhalb kolonialer Diskurse und führt in diesem Zusammenhang den Begriff der „Hybridisierung“ ein. Dieser Terminus richtet sich gegen die Rhetorik von „kultureller Diversität“, die im Kontext des westlichen Multikulturalismus-Diskurses ein dominantes Denkmuster sei und ein Konzept von Kultur als in sich geschlossenes, homogenes System von „fixierten Begriffen von Tradition und Sitte“ (Castro Varela und Dhawan
2015, S. 236) impliziere. Kulturen seien vielmehr fluide und dynamisch und zeichneten sich durch Machtdynamiken aus, die beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen sichtbar werden (vgl. Scharer
2017, S. 62–63). Mit dem Konzept der „Hybridität“ beschreibt Bhabha die „Konstitution von Subjektivität im Spannungsfeld von Macht und Autorität“ (Bhabha und Babka
2012, S. 62) und rückt die Handlungsmacht (agency) der „Kolonisierten“ in den Blick (vgl. Castro Varela und Dhawan
2015, S. 221). In der Umsetzung auf kultursensible Ansätze in der Psychotherapie wird hier besonders der Blick auf die Handlungsmacht der Geflüchteten und Migrant:innen gerichtet, deren kulturelles Selbstverständnis im therapeutischen Prozess zwar herausgefordert wird – wie das des Therapeuten/der Therapeutin – jedoch besonderen Schutzmechanismen unterliegt, die Bhabha als „Mimikry“, als Akt der Nachahmung, bezeichnet (vgl. Scharer
2017, S. 65). Hybridität entsteht in einem dritten Raum durch bewusste (und unbewusste) Aneignung kultureller Identitätsbausteine (Werte, Normen, Denkweisen etc.). Dabei weist Bhabha ausdrücklich darauf hin, dass Hybridisierung nicht „einfach Vermischen, sondern strategische und selektive Aneignung von Bedeutungen“
5 ist. Der dritte Raum stellt dabei einen „Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen“ (Bhabha und Babka
2012, S. 11) dar und „eröffnet auch Räume, die zu Veränderung aller beteiligten AkteurInnen auf allen Seiten führen können“ (ebd. S. 12). In diesen Schwellenraum lösen sich ursprüngliche Machtgefälle auf und stellen einen Raum der Hybridisierung dar.
In einem dritten Raum werden kulturelle Differenzen sichtbar, indem Unterschiede entdeckt und reflektiert werden. „It is that Third Space, though unrepresentable in itself, which constitutes the discursive conditions of enunciation that ensure that the meaning and symbols of culture have no primordial unity or fixity; that even the same signs can be appropriated, translated, rehistoricized and read anew.“ (Bhabha
1994, S. 37). Das Konzept des „dritten Raums“ ist insofern für Psychotherapeut:innen von Relevanz, da auch die Psychotherapie einen Austragungsort kultureller Differenz darstellt, sofern Psychotherapeut:innen und Klient:innen aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlicher kultureller Identität aufeinandertreffen. In einem solchen Setting, kann die Psychotherapie also zu einem dritten Raum werden, der die Möglichkeit der Hybridisierung bietet. Im folgenden Abschnitt sollen systemische Methoden vor dem Hintergrund der theoretischen Überlegungen einer kritischen Analyse unterzogen und anhand eines ausgewählten Fallbeispiels aus der psychotherapeutischen Praxis beleuchtet werden.