Krankheitsgeschehen durch Aktivitätsmarker besser ermitteln

Mit Serum-Neurofilament-Leichtketten (sNfL) als Indikator für axonale Schäden im zentralen Nervensystem (ZNS) könnte ein objektiver Aktivitätsmarker in der Therapie der schubförmigen Multiplen Sklerose (RMS) etabliert werden, der sich niederschwellig in der klinischen Praxis ermitteln lässt [1, 2]. In Ergänzung zu bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomografie (MRT) und dem klinischen Befund könnte der Biomarker sNfL dazu beitragen, die gegenwärtige Krankheitsaktivität von MS-Patientinnen und -Patienten zu bestimmen und subklinisches Krankheitsgeschehen zu detektieren [1, 2]. Der MRT kommt in der klinischen Versorgung für die Diagnosestellung und Verlaufskontrolle der MS eine große Bedeutung zu [1, 3]. Empfohlen wird eine MRT-Kontrolle 6 und 18 Monate nach Therapiestart sowie je nach Verlauf der Erkrankung [3]. „Biomarker, die im Serum gemessen werden können, könnten die derzeitige Praxis ergänzen und eine umfassendere Einschätzung der Krankheitsaktivität erlauben, denn nahezu 90% aller fokalen ZNS-Läsionen bei RMS sind nicht mit neurologischen Symptomen assoziiert. Dennoch können diese zu irreversiblen neuronalen Schädigungen führen [4]“, erläuterte Prof. Dr. Tjalf Ziemssen, Direktor des Zentrums für klinische Neurowissenschaften, Universitätsklinikum Dresden. sNfL zeigt Krankheitsaktivität bei MS an Neurofilamente sind neuronale Strukturproteine, die in großkalibrigen myelinisierten Axonen exprimiert werden [5]. Sie sind wesentlich an der Signalübertragung entlang der Axone beteiligt [6]. Im peripheren Nervensystem werden Untereinheiten der Neurofilamente entsprechend ihres Molekulargewichts differenziert [5, 6]. Die Neurofilament-Leichtketten (Neurofilament Light Chain; NfL) sind im ZNS die häufigste Form von Intermediärfilamenten [5, 6]. Kommt es z. B. aufgrund von Inflammations- oder Degenerationsprozessen bei neurologischen Erkrankungen wie MS zu axonalen Schädigungen, werden vermehrt Neurofilament-Proteine in den Liquor abgegeben und gelangen ins Blut [1, 2, 5]. In der Folge nimmt die sNfL-Konzentration stark zu und zeigt als objektiver, messbarer Echtzeitmarker entzündliche sowie neurodegenerative Krankheitsaktivität an [2, 5] (Abb. 1). „Die im Serum gemessenen NfL-Spiegel steigen kontinuierlich im Verlauf des Lebens allmählich an. So sollten z. B. im Alter von 40 Jahren die Werte bei gesunden Personen im Mittel unter 10pg/ml liegen. Aktive RMS-Patientinnen und -Patienten haben insbesondere ohne Therapie hingegen deutlich höhere sNfL-Spiegel [4, 6, 8]“, so Ziemssen. Abb. 1: Freisetzung von Neurofilamenten aus geschädigtem Axon (modifiziert nach [7]) Springer Medizin Verlag GmbH × Untersuchungen belegen, dass erhöhte sNfL-Werte bei Patientinnen und Patienten mit RMS mit etablierten klinischen Aktivitätsparametern korrelieren und mit dem Auftreten von MRT-Läsionen, Schüben und Hirnvolumenverlust assoziiert sind [1, 4]. Ein sNfL-Wert von ≥10pg/ml gilt nach derzeitigem Kenntnisstand als Indikator für Krankheitsaktivität und ein erhöhtes Risiko für eine Behinderungsprogression [9, 10]. Behinderungsprogression frühzeitig ausbremsen Bei MS kommt es sowohl zu entzündlichen als auch zu neurodegenerativen Prozessen, die zu dauerhaften Schäden im Gehirn und irreversibler Behinderung führen [11]. „In der Frühphase der Erkrankung können zerebrale Restrukturierungs- und Kompensationsprozesse neurologische Einbußen durch demyelinisierende Läsionen zunächst noch ausgleichen. Dies führt initial häufig zu einer vollständigen klinischen Remission der Symptome [12]. Im weiteren Verlauf der Erkrankung und bei unzureichender Kontrolle durch eine krankheitsmodifizierende Therapie (disease-modifying therapy; DMT) erschöpft sich jedoch die zerebrale Plastizitätsreserve zunehmend, was letztendlich zu einer sichtbaren Behinderungsprogression führt [12]“, erklärte Ziemssen. Bei MS werden hochwirksame Therapien (high efficacy therapies; HET)a häufig erst nach mehreren Vortherapien im Rahmen einer Stufenstrategie eingesetzt, obwohl Daten aus Registerstudien eine deutliche Überlegenheit des frühen Einsatzes einer HETa zeigen [3, 13, 14]. Bei aktiver RMS könnte ein früher Einsatz einer HETa die Behinderungsprogression bzw. den Übergang zu einer sekundär progredienten MS (SPMS) deutlich stärker reduzieren als ein späterer Einsatz im Rahmen der klassischen Stufentherapie [13]. Krankheitsaktivität in Echtzeit Im MRT darstellbare akute Entzündungsherde sind das Ergebnis eines zurückliegenden pathologischen Geschehens [1]. Untersuchungen belegen ein Ansteigen von sNfL bei RMS-Patientinnen und -Patienten noch vor dem Auftreten von Schüben (Abb. 2) und MRT-Läsionen [15]. Die sensitive sNfL-Messung könnte somit dazu beitragen, neuroaxonale Schädigungen früh aufzudecken, die in der MRT-Bildgebung nicht zuverlässig erkennbar sind und (noch) keine klinischen Symptome verursachen [1]. Ergänzend zur MRT-Untersuchung und zur klinischen Beurteilung könnten Ärztinnen und Ärzte durch regelmäßige Messungen der sNfL-Spiegel die Krankheitsaktivität in Echtzeit überwachen und Behandlungsstrategien rechtzeitig entsprechend anpassen [1, 2]. „Mit sNfL könnte in der klinischen Praxis ein nützlicher Aktivitätsmarker zur Verlaufskontrolle, zum Therapiemonitoring und zur Therapieplanung ermittelt werden, der auch subklinische Krankheitsaktivität unter einer DMT anzeigt [1, 2, 5]“, erläuterte Ziemssen. Abb. 2: Sensitivität der sNfL-Messung vor dem Auftreten von Schüben bei RMS-Patientinnen und -Patienten (modifiziert nach [15]) Springer Medizin Verlag GmbH × Krankheitsaktivität aufdecken Technische Universität Dresden × Kommentar von Prof. Dr. Tjalf Ziemssen, Leiter des Zentrums für klinische Neurowissenschaften & des Multiple Sklerose Zentrums, Universitätsklinikum Dresden Als Echtzeitmarker kann sNfL potenziell die gegenwärtige Krankheitsaktivität von MS-Patientinnen und -Patienten bestimmen und aktuelles subklinisches Krankheitsgeschehen aufdecken." Klinischer Marker in der Praxis Als Indikator für eine erhöhte Krankheitsaktivität gilt nach derzeitigem Kenntnisstand ein sNfL-Wert ≥10pg/ml, auch wenn sich noch keine klinischen Symptome zeigen [9, 10]. Bei anhaltend hohen sNfL-Werten noch sechs Monate nach Beginn einer DMT sollte eine genaue klinische Untersuchung und/oder ein MRT durchgeführt und eine Therapieoptimierung bzw. ein Therapiewechsel erwogen werden [1, 2]. Unter einer wirksamen Therapie sollten erhöhte sNfL-Werte wieder absinken. Anhaltend niedrige Werte wiederum korrelieren mit der Freiheit von Krankheitsaktivität (no evidence of disease activity; NEDA-3) [1, 2]. Patientinnen und Patienten mit NEDA-3-Status, die klinisch stabil erscheinen, aber dennoch erhöhte NfL-Werte als Zeichen subklinischer Krankheitsaktivität aufweisen, haben ein erhöhtes Risiko, im nächsten Jahr einen Schub oder eine EDSS (Expanded Disability Status Scale)-Verschlechterung zu entwickeln [10]. HETa, z. B. mit dem Anti-CD20-Antikörper Ofatumumabb, führten im Vergleich zu niedrig wirksamen Therapien zu einer anhaltend stärkeren Senkung der sNfL-Werte im Behandlungsverlauf [1, 10, 16]. „Die Messung von sNfL mittels Blutprobe kann im Gegensatz zu gängigen Bildgebungsverfahren leicht in die Routinepraxis integriert werden und ist minimalinvasiv durchführbar [1]“, betonte Ziemssen. Bisher stützt sich die Therapieentscheidung bei RMS auf die Anzahl der Schübe im Erkrankungsverlauf, Schwere und Rückbildung der Schübe, MRT-Parameter (Läsionslast, Aktivität) und Liquorparameter sowie eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung [10]. Mit sNfL lassen sich potenziell individuelle Krankheitsverläufe besser beurteilen und die Behandlung entsprechend anpassen [10]. a analog [3] gemäß Wirksamkeitskategorie 3 b Ofatumumab ist zur Behandlung von erwachsenen RMS-Patientinnen und -Patienten mit aktiver Erkrankung, definiert durch klinischen Befund oder Bildgebung, zugelassen Die Pflichtangaben finden Sie hier: www.novartis.com/de-de/kesimpta Literatur Freedman MS et al., EBioMedicine 2024, 101:104970 CMSC Consensus Statement on Neurofilament Biomarkers in MS, Int J MS Care 2021, (Suppl 1):1–36 Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN), Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie, 31.03.2023, Registernummer 030/050 Ziemssen T et al., Front Immunol 2022, 13:852563 Arslan B, Zetterberg H, Clin Chem Lab Med 2023, 61:1140–1149 Valentino P et al., Mult Scler Relat Disord 2021, 54:103090 Widyadharma I et al., Siriraj Med J 2022, 74:714–720 Harp C et al., Ann Clin Transl Neurol 2022, 9:444–453 Bittner S et al., Brain 2021, 144:2954–2963 Benkert P et al., Lancet Neurol 2022, 21:246–257 Reich DS et al., N Engl J Med 2018, 378:169–180 Ziemssen T et al., J Neurol 2016, 263:1053–1065 He A et al., Lancet Neurol 2020, 19:307–316 Spelman et al., JAMA Neurology 2021, 78:1197–1204 Akgün K et al., Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm 2019, 6:e555 Hauser S et al., N Engl J Med 2020, 383:546–557 Impressum Aktive schubförmige Multiple Sklerose: Krankheitsgeschehen durch Aktivitätsmarker besser ermitteln, Literatur und Interview Bericht: Dr. Regine Schricker, Frankfurt (Main) Artikel gedruckt in „InFo Neurologie & Psychiatrie“, Band 26, Heft 5, Mai 2024 Mit freundlicher Unterstützung der Novartis Pharma Vertriebs GmbH, Nürnberg Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Kristin Ullrich Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian Kaufmann Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. 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