Herausforderungen im fremden Gesundheitssystem
In den Interviews wurde deutlich, dass Sprachbarrieren die Bedürfnisgerechtigkeit mindern und Orientierungslosigkeit, Grenzerfahrungen sowie Versorgungs(um)brüche bedingen. Selbst- und Mitbestimmung wurden als eingeschränkt empfunden, weil Anliegen und Bedürfnisse nicht geäußert werden konnten (I6: 238; I15: 91). Es wurde von Missverständnissen gesprochen, die nicht behoben werden konnten, weil keine gemeinsame Sprache gefunden wurde und keine alternativen Strategien eingesetzt wurden:
„Ich habe kaum mit ihnen gesprochen, am Anfang habe ich versucht zu schildern, dass ich Alkoholprobleme und toxische Gedanken habe [Dolmetscher: Auf Deutsch?]. Ja. Und die meinten, dass die mir Medikamente wie Pillen geben werden“ (I6: 238).
Der Versuch, „zu schildern“, scheiterte hier. Die Sprachbarriere führte dazu, dass der Interviewpartner seine Bedürfnisse in der psychiatrischen Versorgung nicht adäquat mitteilen konnte. Zudem erfuhr er keine empathische Zuwendung seitens der VersorgerInnen, was schließlich zu einem Versorgungsabbruch führte.
2 Interviewte sagten, dass Ihre Behandlung abgelehnt wurde, weil eine adäquate Verständigung nicht gegeben war, z. B.:
„… einige Ärzte, wenn ich hingehe, die sagen du MUSST einen Dolmetscher mitnehmen. Sie sagen, ‚ich untersuche gar nicht‘. Also, das ist auch sein Recht“ (I5: 119).
Beim Zugang zum Gesundheitssystem führten lange Wartezeiten bei der Terminvergabe zu Grenzerfahrungen. Grenzerfahrungen sind deterministisch für negative Versorgungserfahrungen, die die gesundheitliche Situation beeinträchtigen können. So berichtete ein Interviewpartner (I6: 74), dass er trotz des als schwerwiegend wahrgenommenen Gesundheitsproblems lange auf einen Termin warten musste. Ein Befragter (I1: 105) beschrieb, dass er die „Schmerzen erträgt“, bis der Arzttermin „nach langer Zeit“ stattfinden kann, und auch eine weitere Person (I16: 138) gab an, „wochenlang gebraucht“ zu haben, um einen Termin zu bekommen.
14 InterviewpartnerInnen verfügten nicht über ausreichendes Wissen zum Ablauf von Versorgungsprozessen – trotz einer häufigen Inanspruchnahme. Dies zeigte sich z. B. in Hinblick auf Überweisungen, Unterschiede zwischen haus- und fachärztlicher Versorgung oder die beklagten langen Wartezeiten auf Termine. Sie kannten aber in der Regel die für sie relevanten Verfahrensbedingungen. Sie wussten z. B., dass sie eine „AOK-Karte“ brauchen (I13: 276) oder dass es „einen Verein namens BKK gibt“ (I3: 158), um Zugang zum Versorgungssystem zu bekommen. Der Erwerb einer elektronischen Gesundheitskarte (eGK) wurde von 6 Befragten als Erleichterung erlebt, weil damit ein vereinfachter Versorgungszugang ermöglicht wurde. Die mit der Wartezeit auf die eGK verbundenen Zugangsbeschränkungen konnten die Teilhabe am Alltagsleben maßgeblich einschränken. So musste ein Interviewpartner (I11: 270) auf einen Zugang zur Regelversorgung warten, bis er eine Versorgung mit Prothese erhielt:
„Der Ansprechpartner vom Sozialamt hat mir bereits erklärt, dass ich 15 Monate
1 warten muss. Die Bestellung der Prothesen erfolgte dann mit der AOK-Karte. Es war eine Frage der Zeit.“
Ablehnungserfahrungen wurden von 12 InterviewpartnerInnen gemacht. Weil sich beispielsweise ein Interviewpartner von der Versorgung zurückgewiesen fühlte, nahm er sie nicht mehr in Anspruch, obwohl er ein Bedürfnis nach Schlaftabletten hatte (I9: 83). Die negativen Erfahrungen im Krankheitsfall führten sogar dazu, dass er seine Meinung über die Menschen in Deutschland änderte, da er keinen „humanen Umgang“ erlebt hatte (I9: 169 ff.).
3 Interviewpartnerinnen fühlten sich von der (fach-)ärztlichen Versorgung ausgegrenzt und ungleich behandelt. Die empfundene Dringlichkeit der Behandlung geriet in Konflikt mit den (impliziten) Regeln der Auf- und Annahme in der medizinischen Versorgung. Eine Frau (I14: 270) sagte:
„Zum Beispiel einmal ist meine Tochter krank geworden, ich bin zu ihm [dem Hausarzt] gegangen. Als ich ihm gesagt habe, dass meine Tochter krank ist, sagte er mir ‚warum kommen Sie hier ohne einen Termin vorher abzumachen?‘. Woher soll ich wissen, dass meine Tochter krank sein wird. Der sagte mir ‚ohne Termin werde ich sie nicht untersuchen‘. Ich sagte: ‚Sie sind der Hausarzt‘.“
Die Anhäufung von negativen Erfahrungen kann zu Vertrauensverlusten in die Versorgung führen. So suchten 2 Interviewpartner die Versorgung nicht mehr auf. Ein anderer (I1: 105) fühlte sich dagegen „gezwungen“, die Versorgung in Anspruch zu nehmen, weil seine Schmerzen weiterhin stark waren:
„Einige Ärzte machen die Erkrankung schlimmer und manche helfen tatsächlich. Ich sehe, dass mein Zustand noch nicht behandelt wurde. Ich habe keine andere Wahl, als die Behandlungsmethode beim Arzt zu befolgen. Wenn ich einen Termin mit einem Arzt vereinbare, habe ich kein Gefühl der Genesungssicherheit, sondern einen Zustand der Skepsis und Unsicherheit.“
Die grundlegende Skepsis gegenüber der ärztlichen Versorgung wurde im Narrativ mit den Worten, „manche helfen tatsächlich“, relativiert. In seiner Formulierung zeigte sich eine regelrechte Verwunderung über gelegentliche Behandlungserfolge.
4 InterviewpartnerInnen berichteten von subjektiv wahrgenommenen Fehlbehandlungen als gravierendste Form von Grenzerfahrungen, z. B. (I15: 102):
„Meine Gesundheit hat sich verschlechtert während ich beim ehemaligen Arzt behandelt wurde, eineinhalb Jahre lang. Ich nehme das Medikament täglich, was ein Indikator ist, dass meine Gesundheit schlechter geworden ist.“
Die vermeintlichen Fehlbehandlungen hatten Auswirkungen auf das Alltagsleben von 3 InterviewpartnerInnen, weil sie in ihrer Krankenrolle gefangen blieben und zum Beispiel keine Deutschkurse besucht werden konnten.
Fremdheit bewältigen
Um Fremdheitserfahrungen zu bewältigen und Zugangsbarrieren abzubauen, wurden sowohl aufseiten der InterviewpartnerInnen als auch aufseiten der VersorgerInnen unterschiedliche Strategien angewendet, um die Versorgung möglichst bedarfs- und bedürfnisgerecht zu gestalten. Die InterviewpartnerInnen bedienten sich unterschiedlicher Strategien zum Abbau von Sprachbarrieren und zur Orientierung im Gesundheitssystem. Bei Professionellen wurden eine empathische Zuwendung und der Aufbau von Versorgungsallianzen als positiv erlebt, die Fremdheitserfahrungen mit und im System verringern können.
Strategien der Interviewten
14 InterviewpartnerInnen fanden einen adäquaten Umgang mit den vorhandenen Sprachbarrieren. 10 Personen verfügten bereits über rudimentäre Deutschkenntnisse, die sie in der Gesundheitsversorgung einsetzen konnten. So beschrieb eine Person (I19: 145):
„… Außerdem verstehe ich viel von dem, was gesagt wird. Unter Zwang spreche ich Deutsch, wenn ich sprechen muss.“
Auch ein anderer Interviewpartner (I6: 241) war bemüht, sich mit einem Arzt auf Deutsch zu verständigen. Dieser Verständigungs-„Versuch“ gelang jedoch nur eingeschränkt, sodass seine gesundheitlichen Bedürfnisse unerfüllt blieben. Weibliche Interviewte nutzten zum Teil die Hilfe ihrer Kinder, um sich mit den Professionellen des Gesundheitssystems zu verständigen (z. B. I14: 357). Allerdings kann dies zu Problemen führen, wie eine Interviewpartnerin verdeutlichte, weil ein umfassendes Verständnis ausblieb und sich die Interviewpartnerin nicht angemessen in den Versorgungsprozess einbezogen fühlte (I13: 228). Dolmetschen durch Angehörige kann zur Belastungsprobe werden, wie eine Interviewpartnerin aufzeigte (I4: 466):
„Wenn ich sehr krank bin und starke Schmerzen habe, wollte ich nicht, dass meine Tochter mitkommt, aber ich war gezwungen meine Tochter mitzunehmen … Wenn ich Schmerzen habe, dann würde ich lieber meine Tochter nicht mitnehmen.“
Eine Strategie, die 6 InterviewpartnerInnen anwandten, war das Aufsuchen von ÄrztInnen mit dem gleichen kulturellen und sprachlichen Hintergrund, was jedoch nicht immer zum erhofften Erfolg geführt hat. Während 1 Person den sprachlichen und kulturellen Bezug zu ihrem Hausarzt positiv hervorhob, waren 5 InterviewpartnerInnen sehr unzufrieden mit der Versorgung durch ÄrztInnen aus dem gleichen Sprachraum. Eine Person (I1: 125) schilderte, dass viele Geflüchtete unter dieser Situation „leiden“, aber nicht darüber sprechen:
„Viele Flüchtlinge verlassen arabische Ärzte und wenden sich an deutsche Ärzte.“
Dies bestätigten die Narrationen weiterer InterviewpartnerInnen. Angeführte Gründe waren: fehlendes Vertrauen (z. B. I3: 139, I16: 139), belehrendes Verhalten (z. B. I1: 111) und respektlose Behandlungen (z. B. I14: 269).
Neben den sprachlichen Herausforderungen, die die InterviewpartnerInnen mit den oben beschriebenen Strategien in der Kommunikation zu bewältigen versuchen, müssen sie sich im Versorgungssystem orientieren, um Gesundheitssystemkenntnisse zu gewinnen. So zeigte sich bei einem Befragten (I19), dass er durch die umfassende medizinische und therapeutische Behandlung, die durch einen Dolmetscher begleitet wurde, mit den unterschiedlichen Anlaufstellen im Krankheitsfall vertraut war. Alle anderen InterviewpartnerInnen nutzten eher Freunde, Bekannte, andere Geflüchtete oder das Sozialamt als Informationsquelle, was allerdings als „Glückssache“ bezeichnet wurde, weil den InterviewpartnerInnen unklar blieb, ob korrekte Informationen übermittelt wurden (I1: 143). Insbesondere die befragten Frauen profitierten, sofern sie über Familiennachzug gekommen sind, vom Erfahrungsschatz ihrer Familien. Zudem wurde die Vermittlung in die Gesundheitsversorgung durch die SozialarbeiterInnen in den Unterkünften als hilfreich erlebt (z. B. I2: 467).
Strategien der VersorgerInnen
In den Interviews wurden auch Strategien angesprochen, die von den Professionellen im Gesundheitswesen angewandt werden, um sprachliche Barrieren abzubauen. In der stationären Versorgung wurde z. B. auf andere Professionelle wie ÄrztInnen, Pflegepersonal oder medizinische Fachangestellte zurückgegriffen, die über den gleichen sprachlichen Hintergrund wie die InterviewpartnerInnen verfügten. In Hinblick auf die ambulante Versorgung berichtete nur eine Person (I4: 659) davon, dass die kurmandschisprachige Mitarbeiterin einer Gynäkologin beim Einlegen einer Spirale und betreffend die damit verbundenen Kosten gedolmetscht hat. In den anderen Interviews wurde deutlich, dass die Verwendung „einfacher Wörter“ (I3: 153, I17: 201, I19: 196) oder das „Zeit geben, um zu sprechen“ (I5: 94), als hilfreich erlebt wurden, zumindest wenn die InterviewpartnerInnen über Deutschkenntnisse verfügten. Meist konnte damit eine Behandlung initiiert werden, wenngleich es dann bei 4 Personen zum Verdacht auf eine Fehlbehandlung kam.
Eine gute Beziehungsgestaltung zwischen ÄrztInnen und InterviewpartnerInnen wird als hilfreich im Versorgungssystem erlebt, zum Beispiel wenn sich InterviewpartnerInnen als Menschen (und nicht als Flüchtlinge) angenommen fühlen, wie das folgende Zitat nahelegt (I13: 270):
„Der Arzt war geduldig. Er kennt uns nicht und hat uns geholfen. Er geht mit uns nicht als Flüchtlinge um.“
Insbesondere, wenn die empfundene medizinische Unterstützung umfassend war, empfanden die InterviewpartnerInnen die Versorgung als bedürfnisgerecht. So beschrieb eine Person (I14: 294):
„Er [der Hausarzt] macht alles, was er kann.“
3 InterviewpartnerInnen hoben die zeitliche Komponente hervor, 6 InterviewpartnerInnen den empathischen Umgang. Eine Interviewpartnerin erläuterte:
„Immer, wenn ich medizinische Hilfe brauche und zu meinem Arzt gehe, vollzieht der Arzt meine Situation nach. Auch wenn er keine Zeit hätte, versucht er trotzdem eine Lücke zu finden und mich dazwischen zu untersuchen“ (I4: 510).
Ein Interviewter (I2: 791) betonte, dass die ÄrztInnen „geduldig und sorgfältig
“ arbeiteten und seine „Bedürfnisse alle“ befriedigt wurden. Eine gute Arzt/Ärztin-PatientIn-Interaktion schien für ihn die möglichen Sprachbarrieren aufzuwiegen (Zitat Tab.
1; I2: 983).
Unterstützung durch das Versorgungssystem
Sofern sich PatientInnen noch im Asylverfahren befanden, konnten sie teilweise auf DolmetscherInnen zurückgreifen, die sie durch das Versorgungssystem begleiteten. Dies wurde von 5 Interviewten als besonders hilfreich erlebt. Einer der Befragten (I2: 305) wertschätzte die umfassende Betreuung und die Erläuterungen durch den Dolmetscher, der ihm vom Sozialamt zur Verfügung gestellt wurde (Zitat Tab.
1; I2: 305). Der Dolmetscher fing in seinem Fall auch Versorgungsherausforderungen auf und kümmerte sich um die gesamten Abläufe. Ein weiterer Interviewter (I1: 151) berichtete von negativen Erfahrungen mit Sprachmittlung und äußerte deshalb die Meinung, dass eine fehlende Qualifizierung, fehlende Sprachkenntnisse, fehlendes medizinisches Wissen und eine fehlende Professionalität Ausschlusskriterien für die Tätigkeit als DolmetscherIn sein sollten, da sie einer guten Behandlung von gesundheitlichen Problemen im Weg stehen.
In 5 Fällen unterstützten die SozialarbeiterInnen der Gemeinschaftsunterkunft bei der Versorgung. Durch ihre Vermittlung von DolmetscherInnen oder Arztterminen wurde die Versorgung als bedürfnisgerecht erlebt. 4 InterviewpartnerInnen berichteten, im Heimatland oder in Transitländern Schwierigkeiten im Zugang zur gesundheitlichen Versorgung gehabt zu haben, was im Vergleich zu einer positiven Bewertung des deutschen Gesundheitssystems führte – trotz der Restriktionen beim Zugang zu Hilfsmitteln, wie ein Interviewpartner beschrieb, oder des Fehlens einer eGK, wie 6 Personen konstatierten.