Lippen-Kiefer-Gaumenspalten
Lippen-Kiefer-Gaumenspalten stellen mit einer Inzidenz von 1 auf 500 Geburten neben den angeborenen Herzfehlern die zweithäufigste angeborene Fehlbildung dar, mit steigender Tendenz. Durch die Spaltbildung des Gesichtes im Bereich der Lippen und des Naseneingangs, des Kiefers und des Gaumens ergeben sich neben ästhetischen Beeinträchtigungen im sichtbaren Lippen-Nasen-Bereich vor allem erhebliche funktionelle Beeinträchtigungen des Kieferwachstums, der
Atmung, der Sprache und des Gehörs, die der Integration dieser Patienten im Wege stehen können.
Über die Begutachtung von Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und anderen Fehlbildungen des oro
fazialen Systems finden sich in der Literatur nur wenige Berichte (Koch et al.
1991; Machtens
1993).
Da es sich um eine schwere und komplexe Störung des gesamten orofazialen Systems infolge abnormer embryonaler Entwicklungen und
Wachstumsstörungen handelt, liegt meist eine Mehrfachbehinderung vor. Somit müssen bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalt-Patienten Fehlentwicklungen verschiedener Organe – Gesicht, Mund- und Nasenhöhle, Hör- und Sprechvermögen – und deren funktionelle Auswirkungen, die sich gegenseitig beeinflussen, beurteilt werden.
Bezüglich der stattgehabten Behandlung ist von entscheidender Bedeutung, dass eine normale postnatale Entwicklung nur dann möglich wird, wenn der Spaltpatient im Rahmen eines interdisziplinären Therapiekonzeptes unter Einbeziehung der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Kieferorthopädie, HNO-Heilkunde, Phoniatrie/Pädaudiologie, Logopädie, Kinderheilkunde, Zahnheilkunde und bei Bedarf der Sozialpädagogik und Jugendpsychiatrie versorgt wurde. Besonderer Beachtung unterliegen die Folgezustände, die durch insuffiziente oder verzögerte Behandlungsmaßnahmen entstanden sind und eventuell zu einer Verschlechterung der Gesamtsituation beigetragen haben.
Das BMAS „Versorgungsmedizin des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung“ hatte bereits in den 1990er-Jahren nach Anhörung spezieller Sachverständiger (Machtens
1993) die nachstehenden ergänzenden Kriterien zur initialen Einschätzung des Grades der Behinderung (GdB) von Patienten mit
Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten beschlossen und u. a. durch Rundschreiben veröffentlicht. Es bleibt abzuwarten, ob und in welcher Form diese Hinweise nach Überarbeitung der versogungsmedizinischen Grundsätze bzw. dessen Verabschiedung durch die 6. Änderungsverordnung weitergelten. Bis dahin können sie jedoch sinngemäß weiter angewandt werden, soweit sie noch dem aktuellen wissenschaftlich Kennntnistand entsprechen, worauf das BMAS auf seiner Homepage hinweist. Die dortigen aktuellen Rundschreiben sind vom Gutachter unbedingt zu beachten.
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Nach der Geburt und in bestimmten relevanten Behandlungsphasen sollten vom Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen detaillierte Befundberichte erstellt werden.
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Die isolierte Lippenspalte (ein- oder beidseitig) sollte bis zum Abschluss der Behandlung (in der Regel ein Jahr nach der Operation) je nach Trinkstörung, Beeinträchtigung der mimischen Muskulatur und Störung der Lautbildung mit einem GdB von 30 bis 50 bewertet werden. Danach richtet sich der GdB nach der verbliebenen Funktionsstörung.
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Die Lippen-Kiefer-Spalte sollte bis zum Abschluss der Erstbehandlung (in der Regel ein Jahr nach der Operation) mit einem GdB von 60 bis 70 bewertet werden. Bis zum Verschluss der Kieferspalte (im Regelfall 8. bis 12. Lebensjahr) sollte der GdB 50 betragen. Danach richtet sich der GdB nach der verbliebenen Funktionsstörung.
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Die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte sollte bis zum Abschluss der Erstbehandlung (in der Regel 5. Lebensjahr) unter Mitberücksichtigung der regelhaft damit verbundenen Hörstörung (Tubenfehlbelüftung) und der Störung der Nasenatmung mit einem GdB von 100 und dem Nachteilsausgleich „H“ (erforderlich sind vor allem zusätzliche Hilfen bei der Nahrungsaufnahme, bei der Reinigung der Mundhöhle und des Nasen-Rachen-Raumes, beim Spracherwerb sowie bei der Überwachung des Spiel- und Freizeitverhaltens) bewertet werden. Anschließend sollte bis zum Verschluss der Kieferspalte analog zur Lippen-Kiefer-Spalte (GdB 50) verfahren werden. Danach richtet sich der GdB nach der verbliebenen Funktionsstörung.
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Die komplette Gaumensegelspalte ohne Kieferspalte sollte wegen der bis zum Abschluss der Erstbehandlung (in der Regel ein Jahr nach der Operation) bestehenden, mit der Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte vergleichbaren Auswirkungen mit einem GdB von 100 bewertet werden. Bis zum Abschluss der Behandlung richtet sich der GdB nach der verbliebenen Funktionsstörung.
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Die
submuköse Gaumenspalte sollte bis zum Abschluss der Behandlung je nach Ausmaß der Sprachstörung mit einem GdB von 30–50 bewertet werden; ausgeprägte
Hörstörungen sind ggf. zusätzlich zu berücksichtigen. Danach richtet sich der GdB nach der verbliebenen Funktionsstörung. Erfahrungsgemäß wird die submuköse Gaumenspalte verspätet diagnostiziert.
Die Gewährung des Nachteilsausgleichs „H“ wird unter dem erhöhten pflegerischen Aufwand, der durch die Spaltbildung an sich und die wiederholten operativen sowie konservativen Therapien erforderlich ist, und der besonderen Belastung der Eltern durch die Förderung der Entwicklung der Sprache ihrer Kinder anerkannt. Kriterien für die Zuerkennung der Hilflosigkeit von Spaltkindern bis zum fünften Lebensjahr (Ende des vierten Lebensjahres) sind die Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung wie z. B. das Erlernen der Sprache, aber auch der im Vergleich zu einem gleichaltrigen gesunden Kind enorme Aufwand zur Versorgung eines Spaltkindes.
Der Nachteilsausgleich „H“ trifft nicht zu bei Patienten mit isolierten Lippenspalten (L-Spalten) oder mit Lippen-Kiefer-Spalten (LK-Spalten). Bei Patienten mit isolierten submukösen Hart- und Weichgaumenspalten kann der Nachteilsausgleich „H“ individuell je nach Befund und sprachlichen Problemen gerechtfertigt sein.
Die heute möglichen und interdisziplinär einzusetzenden Rehabilitationsmaßnahmen ermöglichen je nach Spaltform im günstigsten Fall eine Verringerung des GdB auf 30 bis 0. In keinem Falle ist durch die Anerkennung des GdB eine spätere Benachteiligung des Kindes zu befürchten.
Spaltpatienten können nicht nur durch chirurgische Maßnahmen, die im Wesentlichen durch den Mund-, Kiefer- und Gesichts-Chirurgen durchgeführt werden, optimal rehabilitiert werden. Voraussetzung ist jedoch, dass alle o. g. beteiligten Disziplinen optimal zusammenarbeiten. Erst eine langjährige interdisziplinäre Zusammenarbeit gewährleistet die frühzeitige Rehabilitation aus medizinischer, sprachlicher und sozialer Sicht.
Dysgnathien
Dysgna
thien (Fehlstellungen der Kiefer zueinander, sog. Fehlb
isse) und die daraus resultierenden funktionellen und ästhetischen Störungen sind z. T. noch nicht ausreichend bekannt. Es handelt sich um die Erkrankungen der mand
ibulä
ren bzw. maxil
lären Pro- oder Retrogn
athie und den offe
nen Biss. Diese skelettalen Fehlentwicklungen wurden durch das SGB V als Krankheit anerkannt. Sie entwickeln sich in Zuge des Wachstums und können unbehandelt zu kaufunktionellen Störungen, vorzeitigem Zahnverlust durch Fehlbelastung sowie zur
kraniomandibulären Dysfunktion führen. Die kaufunktionellen Störungen werden in der Jugend zum Teil kompensiert, können sich aber im Erwachsenenalter manifestieren.
Kau- und Sprachbeeinträchtigungen sowie unphysiologische
Atmung können unbehandelt in GdB-Graden von bis zu 50 resultieren. Die Behandlung von Dysgnathien erfolgt heute meist interdisziplinär durch die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie und die Kieferorthopädie und führt zu stabilen Ergebnissen mit hoher Erfolgsrate. In weniger ausgeprägten Fällen kann auch eine konservative Behandlung durch den Kieferorthopäden zum Erfolg führen.
Tumorerkrankungen im Kiefer- und Gesichtsbereich
Maligne Tum
oren der Mu
ndhöhle und des Oropha
rynx werden heute in der Regel chirurgisch oder kombiniert chirurgisch-strahlentherapeutisch behandelt. Hierbei sind funktionelle Beeinträchtigungen von Schluckakt, Sprache sowie Formveränderungen des Gesichtes nicht immer zu vermeiden. Allerdings hat sich die
Lebensqualität von operierten Tumorpatienten durch die mikrochirurgischen Rekonstruktionsverfahren verbessert. Die vergebenen GdB-Grade als Folge der Tumorbehandlung gehen parallel mit der Tumorgöße (von Werden
1996). Tab.
1 gibt Anhaltspunkte für die Einschätzung funktioneller Störungen im Kiefer- und Gesichtsbereich.
Diese Beratung kann durch einen Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen kompetent erfolgen. Nur dann können für diese Kranken neben der primären Versorgung alle geeigneten Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft eingesetzt werden.